Bevor ich die Ereignisse des heutigen Tages widergebe, muss ich natürlich noch auf den Verlauf des gestrigen Abends und die Spielerparty eingehen. Nach unserer Mannschaftssitzung brachten wir
Mädels (Sarah, Lena und ich) uns erst mal mittels Singstar in Partystimmung. Ich singe zum Leidwesen meiner Mitmenschen unglaublich gerne und bin jedes Mal hellauf begeistert, wenn ich irgendwo
die Gelegenheit bekomme mein „Können“ unter Beweis zu stellen. Trotzdem hielten wir uns nicht so lange damit auf, da Raj uns noch eine Runde Cocktails versprochen hatte. Als wir ihn dann an der
Bar trafen, hatte er sein Vorhaben jedoch schon wieder vergessen und wir mussten uns einen anderen Mann angeln. Horst Metzing erbarmte sich schließlich dankenswerterweise und ich kam doch noch in
den Genuss eines völlig überteuerten „Sex on the beach“.
Die Spielerparty entpuppte sich zunächst als ein völliger Reinfall. Was für einige wohl den Höhepunkt des Turniers darstellen sollte, glich eher dem Treffen eines Altweibervereins. Die Musik war
grauenvoll und die wenigen Leute, die da waren, verteilten sich irgendwie auf die herumstehenden Sessel. Da wir eigentlich nicht so lange bleiben wollten, wagten wir als Erste den Schritt auf die
Tanzfläche und siehe da: nach und nach erhoben sich die Anwesenden von ihren Stühlen und taten es uns nach. Mit der Zeit wurden auch die Lieder besser und es wurde doch noch ein ganz lustiger
Abend. Wir hatten zum Beispiel unseren Spaß daran, Lise und Karjakin beim Tanzen oder Carlsens Schwester bei ihren Flirtversuchen zu beobachten.
Ich bin trotzdem verhältnismäßig früh wieder verschwunden. Schließlich wartete auf mich noch eine ausführliche Vorbereitung und natürlich auch der Wettkampf gegen England am Folgetag.
Unsere Aufgabe, den hübschesten Mann des Turniers zu küren, konnten wir jedoch noch nicht vollenden. Raj hatte uns damit am Frühstückstisch beauftragt und wir haben uns seitdem natürlich schon
ein paar Gedanken darüber gemacht und heftig diskutiert. Jedenfalls sind wir uns einig, dass die Auswahl nicht besonders groß ist und dass hier wesentlich mehr hübsche Schachspielerinnen als
gutaussehende Schachspieler zu finden sind. :-)
Für einen „Mister MEM 2011“ konnten wir uns zwar noch nicht entscheiden, die Heldin des Turniers haben wir dafür aber schon gefunden. Lena musste heute gegen England schon wieder aussetzen und
hat bisher erst eine Partie spielen dürfen. Die Gelassenheit, mit der sie ihre unglückliche Situation hinnimmt, bewundern wir alle sehr und die ganze Mannschaft ist ihr unglaublich dankbar, dass
sie sich nicht negativ diesbezüglich äußert.
Ich wurde darauf hingewiesen, dass ich noch gar nichts über den Ablauf der Vorbereitung und Rajs Aufgaben als Teamcoach berichtet habe. Also werde ich das jetzt mal nachholen. Da die meisten
Mannschaften mit fünf Spielerinnen angereist sind, macht es meist nicht so viel Sinn, sich in der Nacht schon vorzubereiten. Wir warten deshalb immer bis 10 Uhr morgens, wenn die Aufstellungen
abgegeben werden müssen. Wir selbst entscheiden immer am Abend vorher, wer am nächsten Tag aussetzen soll. Dabei geht es hauptsächlich darum, was für die Mannschaft am besten ist. Das ist
natürlich nicht immer einfach zu sagen und deshalb bekommt jede Spielerin die Chance, ihre eigene Meinung zu äußern. Am Ende entscheidet jedoch immer der Trainer. Wenn feststeht, wie die
gegnerische Mannschaft gegen uns aufgestellt hat, schaut jede Spielerin erst mal für sich, wie das Repertoire ihrer Gegnerin aussieht. Dann dreht Raj seine morgendliche Runde und vergewissert
sich, dass es keine Probleme bei der Vorbereitung gibt. Marta und Lise sind meist nicht auf Rajs Hilfe angewiesen, aber besonders Sarah und ich brauchen oft Unterstützung, wenn es darum geht
nicht in die gegnerische Vorbereitung zu laufen. Wir sind nämlich beide sehr ausrechenbar und benötigen deshalb sogenannte SOS-Varianten, die eigentlich nur für den einmaligen Gebrauch geeignet
sind.
Auf so eine Variante habe ich auch heute zurückgegriffen. Auf 1. d4 antwortete ich mit 1….d6. Ziel dieses Zuges war es hauptsächlich, meine Gegnerin zu überraschen. Leider antwortete sie prompt mit 2. Lg5 und jetzt war ich es, die überrascht war. Raj sagte mir später, dass das die einzige Variante war, die wir nicht angeguckt hatten …aber so ist das ja immer. Ich dachte mir jedenfalls, dass der Zug bestimmt nicht gut sein kann (sonst hätte Raj ihn mir ja gezeigt) und spielte selbstbewusst auf Vorteil. Ich fühlte mich in meiner Stellung auch bald sehr wohl und war mit dem Verlauf der Eröffnung ausnahmsweise mal recht zufrieden. Auch Sarah war von der Eröffnungswahl ihrer Gegnerin sehr angetan. Sie hatte sich versehentlich erst auf die falsche Spielerin vorbereitet (im Internet stand fälschlicherweise, dass England nur mit vier Spielerinnen angereist ist) und musste dementsprechend mit weniger Zeit für die Vorbereitung auf ihre eigentliche Gegnerin auskommen. Der Morozcy-Aufbau, den sie wählte, schien ihr zu liegen und sie hatte sich bald eine sehr vorteilhafte Position erspielen können. In Zeitnot machte sie zwar ein paar ungenaue Züge, am Ende zeigte sich aber, dass sie die bessere Spielerin ist. Die beiden ersten Bretter waren Remis ausgegangen. Während in Lises Partie nicht viel passiert war, schrammte Marta nur knapp am Sieg vorbei. Sie hatte bei einer langen Variante am Ende eine Kleinigkeit übersehen und ihre Gegnerin so noch einmal entkommen lassen.
Sie selbst bezeichnete das Ende der Partie als die „schönste Kombination meiner Schachlaufbahn“ und noch bei der Mannschaftssitzung war sie untröstlich über den Ausgang der Partie. Ich war dagegen untröstlich über den Verlauf meiner Partie in der Zeitnotphase. Eine Weile hatte ich alles richtig gemacht und meine Stellung nach und nach verbessern können. Dann kam es wie so oft, dass ich mit wenig Zeit auf der Uhr ein paar ungenaue Züge machte und mich dann in einem Turm-Springer-Endspiel wiederfand. Ich stand zwar immer noch besser, der Sieg war aber erst mal in weite Ferne gerückt. Zum Glück überlegte meine Gegnerin nach der ersten Zeitkontrolle so lange, dass sie eigentlich gleich wieder in Zeitnot kam und dann nicht die besten Verteidigungszüge finden konnte. Ein verdientes 3:1 war der Lohn meines fünfstündigen Kampfes.
Noch besser lief es jedoch bei unseren Männern. Ich traute meinen Ohren kaum, als mir von dem 3,5:0,5 gegen die Ukraine berichtet wurde. Mit diesem sensationellen Sieg katapultierte sich das
deutsche Team sogar an die Tabellenspitze, da das Spitzenduell Aserbaidschan - Spanien 2:2 ausgegangen war. Auch wenn vielleicht etwas Glück mit im Spiel gewesen war, der Sieg war auf jeden Fall
verdient. Arkadij konnte ein leicht besseres Endspiel für sich entscheiden und Daniel hatte keine Mühe ein Unentschieden zu erreichen. Bei Georg sah es lange Zeit nicht besonders gut aus. In
Zeitnot griff sein Gegner Alexander Mioseenko (2715) jedoch fehl und Georg konnte sogar noch gewinnen. Jan spielte wohl die beste Partie des Turniers und es wird sogar schon über einen
Schönheitspreis gemunkelt. Ich drücke den Männern jedenfalls für das morgige Match gegen Bulgarien beide Daumen und hoffe, dass sie ihre Siegestour fortsetzen werden. Bulgarien ist jedoch ein
ernstzunehmender Gegner, erst heute konnte das Team 3:1 gegen die Russen gewinnen.
Wir Frauen spielen morgen gegen Tschechien und auch uns wünsche ich natürlich bestmögliche Erfolge. Im Moment stehen wir auf Rang 8 – ein ordentliches Ergebnis, was aber noch zu verbessern ist.